Merz' Kanzlerwahl: Nur ein Stotterstart oder ein Totalschaden?

Shownotes

Gäste:

  • Dr. Julia Reuschenbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
  • Katharina Hamberger, Hauptstadtkorrespondentin beim Deutschlandfunk.

Host: Tobias Schmidt, Autor und Podcast-Host bei Politik und Kommunikation.

Zentrale Themen und Thesen:

Die turbulente Kanzlerwahl von Friedrich Merz:

  • Katharina Hamberger beschreibt ihre Überraschung und die angespannte Atmosphäre auf der Pressetribüne des Bundestags, als das Ergebnis des ersten Wahlgangs bekannt wurde: Merz war durchgefallen. [ca. 00:02:00 - 00:03:30]
  • Julia Reuschenbach war weniger überrascht angesichts vorheriger Diskussionen über die Stabilität der Mehrheit und betont, dass die 18 Abweichlerstimmen nicht nur gegen Merz, sondern potenziell auch gegen Lars Klingbeil (SPD) gerichtet gewesen sein könnten. Ihr Entsetzen wuchs angesichts der offensichtlichen Planlosigkeit nach dem ersten Wahlgang. [ca. 00:03:49 - 00:04:56]
  • Katharina Hamberger kritisiert, dass weder die Fraktionen noch die Bundestagsverwaltung ausreichend auf das Szenario eines Scheiterns im ersten Wahlgang vorbereitet waren, insbesondere im Hinblick auf die Geschäftsordnung des Bundestages. [ca. 00:05:28 - 00:07:05]

Auswirkungen auf die Regierungsstabilität und politische Kultur:

  • Julia Reuschenbach sieht in der parlamentarischen Ratlosigkeit ein wiederkehrendes Muster und fordert, dass Politik resilienter und vorausschauender werden muss. Sie weist auf die fehlende Zweidrittelmehrheit der Regierung in der politischen Mitte hin und die Herausforderung, z.B. die Schuldenbremse zu reformieren. [ca. 00:07:42 - 00:09:26]
  • Katharina Hamberger erwartet, dass politische Gegner, insbesondere die AfD, den "Makel" des schwierigen Starts nutzen werden. Sie sieht auch Potenzial für Misstrauen innerhalb der Koalitionsfraktionen. [ca. 00:09:48 - 00:10:44]
  • Julia Reuschenbach argumentiert, dass die europäische Bühne von dem Vorfall weniger irritiert sein wird, da andere Länder Fragilität gewohnt sind. Entscheidend sei, wie die Koalition mit der neuen Normalität von weniger Stabilität umgeht. [ca. 00:11:16 - 00:12:03]
  • Tobias Schmidt wirft die Frage auf, ob die "Nahtoderfahrung" disziplinierend wirken könnte. [ca. 00:12:10]
  • Katharina Hamberger vergleicht es mit dem "Blick in den Abgrund" der Union 2018, sieht aber auch eine stärkere Individualisierung in Parteien, weg vom reinen "Kanzlerwahlverein". [ca. 00:12:41 - 00:13:43]
  • Julia Reuschenbach warnt, dass reine Disziplin keine Lösung für vier Jahre sein kann. Merz und Klingbeil müssten für ihre Politik werben, statt nur auf Krisen zu verweisen. Sie erwähnt den Brandbrief der NRW-SPD als Zeichen interner Unruhe. [ca. 00:13:54 - 00:16:09]
  • Katharina Hamberger erinnert an Peter Taubers frühe Forderung (2015), die CDU müsse "jünger, bunter, weiblicher" werden, was nicht gelang. [ca. 00:16:18 - 00:17:09]
  • Julia Reuschenbach kritisiert die Haltung "es hat ja immer irgendwie geklappt" als Kernproblem. [ca. 00:17:20]

Die Rolle der Linken und die "Brandmauer":

  • Tobias Schmidt thematisiert die kurzfristige Notwendigkeit der Kooperation mit Die Linke für den zweiten Wahlgang und die Aussage von Katja Mast (SPD), die Linke gehöre zum demokratischen Spektrum. [ca. 00:18:08 - 00:18:43]
  • Julia Reuschenbach meint, die Union könne nicht vier Jahre lang so tun, als sei die Zusammenarbeit mit der Linken rein formal. Sie fordert eine moderierte Debatte über den Unvereinbarkeitsbeschluss und verweist auf die Situation in Thüringen (Mario Voigt, Bodo Ramelow). [ca. 00:19:08 - 00:21:17]
  • Katharina Hamberger erläutert, dass der Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linken älter sei und es Stimmen (v.a. im Osten) für dessen Abschaffung gäbe. Sie erwähnt, dass Alexander Dobrindt mit Heidi Reichenegge (Linke) verhandelte und spekuliert, ob Merz hier eine "Nixon goes to China"-Rolle spielen könnte. [ca. 00:21:52 - 00:23:00]
  • Julia Reuschenbach zitiert Carsten Linnemann und sieht Argumentationslücken bei der Abgrenzung zur Linken, während sie für eine klare Brandmauer zur AfD plädiert, da diese die CDU zerstören wolle. [ca. 00:23:14 - 00:25:11]

Außenpolitische Agenda des Kanzlers Merz:

  • Tobias Schmidt hebt Merz' erste Auslandsreisen nach Paris und Warschau hervor. [ca. 00:25:36]
  • Katharina Hamberger betont Merz' Wunsch, die Beziehungen zu Frankreich und Osteuropa (speziell Polen mit Donald Tusk) zu stärken, was er Olaf Scholz als Versäumnis vorwarf. [ca. 00:26:01 - 00:27:21]
  • Julia Reuschenbach unterstreicht die Bedeutung des Weimarer Dreiecks angesichts der US-Situation und der (fiktiven) Äußerungen des US-Außenministers zur AfD. Sie warnt jedoch, dass Merz in einer Koalition agiert und europapolitische Themen (Ukraine, Migration) mit der SPD umstritten sind. [ca. 00:27:23 - 00:29:52]
  • Katharina Hamberger hofft auf ein Ende des "German Vote" (deutsche Enthaltungen in der EU), sieht aber auch hier Herausforderungen mit der SPD. [ca. 00:30:04 - 00:30:51]

Migrationspolitik als Herausforderung:

  • Tobias Schmidt spricht Merz' Vorschlag der "Zurückweisung an den Grenzen" an und mögliche Konflikte mit Nachbarstaaten wie Polen. [ca. 00:31:12]
  • Katharina Hamberger sieht bei osteuropäischen Staaten zwar Zustimmung zu einer härteren Migrationspolitik, aber Ablehnung von Pushbacks ohne Abkommen. Sie warnt vor "Refugees in Orbit" und "Zeltstädten im Niemandsland". [ca. 00:31:55 - 00:33:30]
  • Julia Reuschenbach argumentiert, dass Deutschland zwar einen Punkt habe (Durchreise durch andere EU-Staaten), Merz' "Basta-Politik" im Vorfeld jedoch kontraproduktiv gewesen sei. Sie warnt vor Bildern von "kampierenden Geflüchteten", die die AfD nutzen würde. [ca. 00:33:51 - 00:36:53]
  • Katharina Hamberger verweist auf das neu beschlossene GEAS (Gemeinsames Europäisches Asylsystem) und praktische Umsetzungsprobleme (Personal, Rechtsfragen). Sie hebt die hohen Erwartungen konservativer Wähler an die Migrationspolitik hervor. [ca. 00:37:10 - 00:39:20]

Das Personaltableau im Kanzleramt und der Regierung:

  • Tobias Schmidt listet die (fiktiven) männlichen Abteilungsleiter im Kanzleramt auf (Günter Sauter, Michael Klaus, Philipp Wolf) und Jakob Schroth als Leiter der Stabsstelle des Nationalen Sicherheitsrates. [ca. 00:39:31 - 00:40:19]
  • Katharina Hamberger sieht einen stärkeren außenpolitischen Fokus im Kanzleramt. Jakob Schroth sei jung, talentiert und Merz nahestehend, aber keine langjährige Vertrauensperson. [ca. 00:40:35 - 00:42:15]
  • Julia Reuschenbach merkt an, dass die Personalie Jakob Schroth Erwartungen an ein "Schwergewicht" enttäuschen könnte. Sie kritisiert scharf die rein männliche Besetzung der Abteilungsleiterposten im Kanzleramt als Rückschritt gegenüber der Ära Merkel und als strategischen Fehler für die CDU. [ca. 00:42:23 - 00:45:47]
  • Katharina Hamberger und Tobias Schmidt weisen darauf hin, dass männlich dominierte Führungsebenen auch in SPD-geführten Bereichen (Umfeld Olaf Scholz, Boris Pistorius, Finanzministerium unter Klingbeil) ein Thema sind. [ca. 00:45:48 - 00:46:41]
  • Julia Reuschenbach bekräftigt ihre Kritik an der mangelnden Repräsentation von Frauen als schädlich für die Volksparteien. [ca. 00:46:43 - 00:47:49]

Das Finanzministerium unter Lars Klingbeil:

  • Tobias Schmidt fragt, ob Lars Klingbeil sich mit Personalien wie Björn Böning (Koordinator der SPD-Ministerien) und Steffen Mayer ein "Nebenkanzleramt" aufbaut. [ca. 00:48:01 - 00:48:34]
  • Katharina Hamberger bejaht dies; das Finanzministerium sei ein mächtiger "Veto-Spieler", insbesondere durch den "Finanzierungsvorbehalt" im Koalitionsvertrag. [ca. 00:48:35 - 00:49:17]
  • Julia Reuschenbach warnt, dass der Finanzierungsvorbehalt auch eine Bürde für SPD-Projekte sein kann und Klingbeil dafür verantwortlich gemacht werden könnte. Sie sieht den "Klingbeil-Hype" und seine Machtposition in der SPD (Stichwort Saskia Esken) noch nicht als gefestigt und verweist auf die ernste Lage der SPD nach dem Wahlergebnis. [ca. 00:49:23 - 00:52:37]
  • Katharina Hamberger ergänzt, dass es auch in der SPD Unzufriedenheit mit Klingbeils Rolle bei der Kanzlerkandidatur und inhaltliche Differenzen (Migration, Sicherheitspolitik) gibt. [ca. 00:52:38 - 00:54:06]
  • Julia Reuschenbach betont die Notwendigkeit einer ehrlichen Aufarbeitung des SPD-Wahlergebnisses. [ca. 00:54:16 - 00:55:24]

Bewertung einzelner Ministerposten:

  • Julia Reuschenbach nennt als positive Überraschung Reem Alabali-Radovan (BMZ) und äußert Skepsis bezüglich Wolfram Weimar (Kulturstaatsminister) aufgrund mangelnder Exekutiverfahrung und der Sensibilität des Amtes. [ca. 00:55:52 - 00:58:18]
  • Katharina Hamberger lobt den Mut der Union zu neuen Namen wie Katharina Reiche (Verkehr) und Carsten Wildberger (Staatsmodernisierung), sowie die Diversität im SPD-Teil des Kabinetts. Den CSU-Teil (z.B. Alois Rainer, Landwirtschaft) bezeichnet sie als "klug gemacht". [ca. 00:58:31 - 01:00:21]
  • Julia Reuschenbach sieht im neuen Kabinett mit vielen Personen "ohne Geschichte miteinander" Potenzial für frischen Wind. [ca. 01:00:42 - 01:01:28]

Schlussbemerkung:

  • Tobias Schmidt weist auf die übliche 100-Tage-Frist für neue Minister hin und dankt den Gästen. [ca. 01:01:29]

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